Um 5:30 Uhr war die Nacht mehr oder weniger zu Ende, seit einigen Tagen gibt es Feierlichkeiten, zu Ehren z.B. des Heiligen San Miguel. Praktisch umgesetzt wurde es hier z.B. durch die Evangelische Kirche mit Autos mit Lautsprechern, die lauthals aufforderten heute in die Kirche zu gehen und Gutes zu tun. San Miguel ist einer der Engel, der am jüngsten Gericht teilnimmt und außerdem ist er der Schutzpatron z.B. für Kranke und Hilfsbedürftige. Das Ganze zog sich bestimmt 20 Minuten hin, das ist der Nachteil an einer zentralen Lage. Danach war an Schlaf für mich nicht mehr zu denken.
Der heutige Tag ist das angestrebte Highlight meiner Reise, heute wird es ein großes Treffen aller beteiligten Produzent*innen des Natural Projektes in der Fortaleza (Test- und Vorzeige-Finca der
COMSA) geben. Anlass war dafür unter anderem der Wunsch eines der ältesten Produzent*innen bei meiner letzten Reise: Don Tacho hatte mir bestätigt, dass die Pandemie den sozialen Zusammenhalt
stark zum Negativen hin beeinflusst hat. Viele Produzent*innen haben sich auf die Arbeit auf die Fincas konzentriert, größere Treffen und Gespräche in großer Runde fanden nicht statt. Don Tacho
hatte es ganz einfach auf den Punkt gebracht, es fehlt an Vertrauen. Die Ursachen dafür sind bestimmt nicht nur in der Pandemie zu finden, aber es ist in dieser Zeit schlimmer geworden.
Bestärkt in dem Plan wurde ich noch durch ein Gespräch mit Dilcia Bautista, Ihrem Mann Eduardo Sosa und einem recht neuen Mitglied des Projektes Don Dagoberto. Dilcia Bautista hat kurze Zeit nach
meinem letzten Besuch ihren langjährigen Kampf gegen den Krebs verloren, aber trotz dieser schweren Erkrankung war sie voller Energie und immer auf der Suche nach einer Verbesserung.
Der Austausch der Produzent*innen besteht oft nach eigener Angabe aus einer recht oberflächlichen Kommunikation. Die meisten behalten konkrete Probleme erst einmal für sich. Ebenso Lösungen für
Probleme, weil wenn sie ein Problem lösen können, dann können es auch die anderen. Besonders die, die im sozialen Umfeld als höher gebildet und erfahren gelten.
Ein ganz praktisches Beispiel: Dilcia weiß, dass gegen Riesentaschenratten (Taltuzas) eine bestimmte Pflanze hilft, sie schützt die Wurzeln der Kaffeepflanze. Andere Pflanzen, z.B. Gemüse, kann
so auch vor Schaden bewahrt werden. Ein anderer Produzent, den ich zwei Tage zuvor getroffen hatte, hat mir vom gleichen Problem berichtet und seiner Notlösung, die angepflanzten Karotten zu
entfernen und an anderer Stelle sein Glück erneut zu versuchen. Bei dem Gespräch mit Don Dagoberto stellte sich schnell heraus, dass er von der hilfreichen Wirkung der Pflanze auch noch nichts
wusste. Dies ist nur ein winziges Beispiel, aber Dilcia und alle anderen an diesem kleinen Tisch waren sofort angetan. Beim nächsten Mal sollte es also ein großes Treffen geben, um einen weiteren
Schritt in Richtung gleichberechtigten Wissensaustausch zu machen.
Leider muss das heutige Treffen ohne Dilcia stattfinden, aber die wunderschöne Finca „La Colmena“ war schon immer ein Resultat der ganzen Familie: die ihres Ehemannes Eduardo und der drei
erwachsenen Söhne.
Die Organisation des Treffens war dank der Unterstützung COMSAs und dem Engagement der Produzent*innen ein Kinderspiel.
Geplant war das Treffen für 22 Produzent*innen, für mich und meine Freundin Liliana. Liliana ist eine sehr erfahrene Cupperin (Person, die Kaffee verkostet und qualifiziert) und sie ist super in
Englisch.
Ich bezeichne mein Spanisch immer als „Kaffee-Spanisch“, es reicht meistens für 2er und 3er-Gespräche bei einem persönlichen Treffen. Online geht es dank entsprechend Unterstüzung sowieso ganz
gut, mit elementarem Grundwissen zur Sprache. Mit diesem begrenzten Können ein 5-Stündiges Treffen mit über zwanzig Personen und dem Ziel effizient, teilweise schwierige Themen anzugehen, ist
etwas ganz anderes. So etwas ist schon in entsprechender Muttersprache schwierig, unsere Strukturtage bei Quijote mit externer, erfahrener Begleitung sind meistens auf 4 Stunden angesetzt. Mein
Plan war es eher das Gespräch anzustoßen, zu strukturieren, also letztendlich zu moderieren, als einen Monolog zu halten bzw. mehre Monologe von anderen anzuregen.
Wir hatten unseren Termin auf Beginn 10:00 Uhr angesetzt. Einige Produzent*innen haben eine Anreise von ca. 2 Stunden, bzw. diese Zeitspanne droht sich aktuell aufgrund des Wetters noch zu
verlängern. Dona Maria Cristina, ihr Mann Victorino und ihre Töchter war schon fast eine Stunde vor dem Treffen vor Ort. Lennon, seine Mama und ich kamen 30 Minuten vor dem angesetzten Termin auf
der Fortaleza an. Gegen 10:15 Uhr waren alle versammelt, eine Straße war durch den Regen der letzten Tage schwieriger als sonst und bei einer Familie gab es leider kurzfristig einen medizinischen
Notfall. Doch selbst sie waren zu zweit da, andere hatten spontan noch weitere Familienmitglieder mitgebracht.
Traditionell begann alles mit der gängigen Begrüßung, bestehend aus einleitenden Worten von Rommel Melghem (Personalchef der COMSA und Leiter der Fortaleza) und einem gemeinsamen Gebet. Danach
war für mich ein Moment, auf den ich mich sehr gefreut habe. Alle Anwesenden haben sich vorgestellt. Viele kennen sich, einige jedoch nur die Namen der anderen, aber dies war das erste Mal, dass
die Gruppe der Produzent*innen des Natural Projektes alle an einem Tisch saßen. Nach der Vorstellungsrunde lag das Wort bei mir. Wie schon im Vorfeld angekündigt per Whatsapp, Facebook und auch
besprochen mit Herson Melghem einem der Agronom*innen der COMSA, war meine Idee: Jeder der Anwesenden sucht sich zwei Themen aus. Jedes Thema wird einzeln auf einen Zettel geschrieben, im
Anschluss besprechen und entscheiden wir gemeinsam, welches Thema wir heute bearbeiten wollen.
Begründet hatte ich das Ganze mit der Ansicht, dass jeder von uns Schüler*in und Lehrer*in ist. Und dass es viele Themen gibt, die oft nicht thematisiert werden, weil man annimmt, der*die
Gesprächspartner*in weiß sowieso wie es ist oder man ist allein mit einem Problem, bzw. jede*r kennt die Lösung.
Manchmal ist die Fragestellung der Schlüssel. Als Beispiel dafür habe ich von einem Gespräch mit einem Produzenten vor zig Jahren berichtet: Der Produzent hat für uns Honey Kaffee aufbereitet,
die Qualität war super in der Tasse, der Produzent hat mir zahlreiche Bilder von der Ernte und der Finca gezeigt: die fertigen Säcke mit Pergaminkaffee, Nahaufnahmen vom Pergaminkaffee mit dieser
unverwechselbaren, getrockneten, honigfarbigen Schleimschicht. Dieser Kaffee sieht für mich immer wie „Smacks“ (Cornflakes) aus. Ich fragte ihn, ob er irgendetwas verändert hätte bei der
Aufbereitung. Er antwortete nein, alles wie immer. Daraufhin bat ich ihn mir Fotos von den Secadoras (Trocknungsbetten aus Holzgestell und Netzschicht) zu zeigen. Völlig verwundert sah er mich an
und sagte, dass er den Kaffee jetzt immer auf dem Patio (Hof – Betonboden) trocknet. Dieses Mal sah ich ihn verwundert an und fragte ihn, warum er sich dazu entschieden hat. Seine knappe und
direkte Antwort war: Seine Hunde hatten die Secadoras vor Langeweile zerstört. Völlig verdutzt fragte ich dann, ob ich gleich hätte fragen sollen, ob seine Hunde die Secadoras gefressen haben.
Und er antwortete mit „Ja“. Dabei grinste er verschmitzt. Ich hatte die Hunde im Jahr zuvor kennengelernt, 3 sehr große und vor Muskeln nur so strotzende Pitbulls. Seitdem versuche ich, um zig
Ecken zu denken und selbst die noch so unwahrscheinlichste Frage in Betracht zu ziehen.
Erheitert schauten mich alle in der Runde an. Ich habe noch ergänzt, es gibt keinen Bereich oder kein Thema, was nicht auf den Zettel geschrieben werden kann. Jedes Thema, bei dem der Wunsch besteht, es in dieser Runde zu besprechen, ist willkommen. Nach 10 Minuten sammelte ich alle Zettel ein, danach machten wir erst einmal 10 Minuten Pause. Währenddessen haben Lily und ich die Zettel ausgewertet. Wir haben sie sortiert und noch einmal bei Einzelnen nachgefragt, wenn wir Fragen zur Handschrift bzw. zum Inhalt hatten.
Im Anschluss ging es an unsere große Tafel und wir haben die verschiedenen Themen vorgelesen. Und zusammen drei übergeordnete Bezeichnungen für Gruppentitel festgelegt.
Der erste Gruppentitel war ganz allgemein gefasst „Finca - Varios“ (Finca-Verschiedenes), in diese Gruppe haben wir z.B. Kaffeevaritäten, Klimawandel und Generationswechsel gepackt.
Die zweite Gruppe bezog sich konkret auf unser gemeinsames Projekt „Projecto Natural“ („Natural“ Projekt), hier landeten Punkte wie z.B. Preisangebot für die nächste Ernte, Rentabilität, Abgabe
des Kaffees und Muster.
Die dritte Gruppe haben wir zusammengefasst unter dem Begriff „Mercado de Cafe“ (Kaffee-Markt), hier haben wir zwei Punkte zugeordnet: Transparenz und Preiskalkulation.
Einen Punkt haben wir allen drei Gruppen zugeordnet: gemeinsame Treffen und Informationsaustausch.
Nach wenigen Minuten hatten wir uns darauf verständigt, dass wir gemeinsam das Thema Preiskalkulation besprechen, um uns dem Thema Rentabilität bzw. auch Vorarbeit für den Punkt „Preisangebot für
die nächste Ernte“ zu nähern.
Bei der Aufbereitung von Naturalkaffee werden die reifen und frisch geernteten Kaffeekirschen sorgfältig getrocknet. Dies kann 3 oder sogar 4 Wochen dauern. Der Kaffee muss dabei täglich
sorgfältig und vorsichtig gewendet werden, damit die anfangs sehr empfindliche Haut der Kirsche nicht verletzt wird und Bakterien eindringen können. Der Zeitpunkt der Ernte bzw. Beginn der
Verarbeitung und die Wetterprognose und die individuellen Bedingungen der jeweiligen Finca und das Können der Produzent*innen sind dabei entscheidend. Je nach Kombination ist der Gewichtsverlust
zum Teil sehr gravierend, da am Ende nur die Exportmenge bezahlt wird, deshalb ist es immer die oberste Priorität zu überprüfen, ob sich das wirklich rechnet. Der erste Schritt dazu ist aber der,
dass man sämtliche Kosten kennt. Damit haben wir begonnen und innerhalb kürzester Zeit standen mehrere Begriffe an der Tafel: Lohnarbeiter*innen (z.B. Ernte), Festangestellte (die ganzjährig oder
länger als der Erntezeitraum auf der Finca helfen), Transportkosten, Export- und Verarbeitungskosten bei COMSA, Bankkredite (für Finca, Maschinen etc.), Materialkosten und vieles mehr. Ironisch
grinsend viel zum Schluss noch der Punkt „Abgabe an den stattlichen Kaffeeverband IHCAFE“.
Es stand wirklich viel an der Tafel, zwei Punkte fehlten meiner Meinung nach noch: erstens Kommunikationskosten (Handy, Guthaben), denn ohne dies geht hier so gut wie nichts.
Zweitens: Tageslohn der Produzent*innen. Bei diesem Punkt wurde es auf einmal still.
Einer der jungen Produzent*innen sagte auf einmal, dass er für sich selbst 300 Lempira einkalkuliert, das entspricht aktuell 11,43 € pro Tag. Während der Ernte geht der Tag gegen ca. 6:00 Uhr los
und endet gegen 18:00 oder 19:00 Uhr. Selbst wenn man die kurze Zeitspanne nimmt und eine Stunde Mittagspause abzieht, sind das 11 Stunden und damit in etwa ein Verdienst von 1€/ Stunde.
Viele Produzent*innen kalkulieren für sich und ihre Arbeit kein oder nur wenig Geld für sich ein.
Einer der jüngeren Produzent*innen berichtete zuerst von seinem Ansatz und seiner Kalkulation für seine Arbeit, so nach und nach berichteten dann alle. Selbst in dieser recht kleinen Gruppe sind
die Standpunkte zu diesem Thema sehr, sehr vielfältig, sowohl in der Höhe des Lohnes, als auch darin, was als Arbeit gilt?
Es war uns allen klar, dass wir dieses konkrete Thema heute nicht zu Ende besprechen können, aber es war ein Anstoß.
Mit 10 Jahren Schulzeit oder mehr und mit Zugang zu sämtlichen Wirtschaftsbüchern ist eine Preiskalkulation schon für viele Einsteiger*innen und Geschäftsgründer*innen oft schwierig. Nicht
umsonst gibt es allein in Deutschland zig öffentliche und teure private Angebote von Firmen, die dabei helfen, die eigene Arbeitskraft wirtschaftlich sinnvoll zu kalkulieren.
Honduras hat diesen Luxus an Bildungschancen weitestgehend nicht, Produzent*innen mit 55 und mehr Jahren haben oft nur ein bis drei, manchmal fünf Jahre die Schule besucht oder einfach gar
keine.
Vor 20 Jahren gab es hier weder Handy noch flächendeckendes Internet, auf dem Land gab es natürlich auch keine Bibliotheken, von daher sind die Möglichkeiten damals sehr begrenzt gewesen. Ich
kenne es nur aus Erzählungen, aber damals sah die Welt hier ganz anders aus.
Im Durchschnitt sind die 10 Besitzer*innen der Fincas, die an diesem Projekt beteiligt sind, Mitte 50, der älteste Produzent ist aktuell 74 Jahre alt.
(Nur am Rande, es ist hier gerade 17:42 Uhr während ich im Hotel schreibe, der Strom ist gerade zum dritten Mal ausgefallen. Der längste Ausfall dauerte bisher knapp 30 Minuten, ich schreibe also
gerade im Dunkeln.)
Was mich immer wieder fasziniert ist, mit welchem Engagement die Produzent*innen bei diesem Projekt dabei sind.
Ich sage sehr oft, dass es mir eine Ehre, ein Privileg und eine wahre Freude ist, an diesem Projekt für Quijote teilhaben zu dürfen.
Die Zusammenarbeit mit COMSA auf unzähligen Ebenen und die direkte Kommunikation mit diesen Produzent*innen vor Ort ist für mich einfach immer wieder
unfassbar und einzigartig.
(Das Licht war gerade kurz an, jetzt ist es wieder aus.)
Nachdem wir über den Wert und die Notwendigkeit der Kalkulation der eigenen Arbeit gesprochen haben, war es auch schon Zeit zum Mittagessen. Wir haben sehr leckeres und frisch zubereitetes Essen
von der Küche der Fortaleza bekommen. Dazu gab es frischen Saft aus Beeren. Die Mittagspause fiel recht kurz aus, da wir um 15:00 Uhr das Treffen beenden
wollten. Zum einen war Regen angekündigt, zum anderen ist der Rückweg meistens genauso lang wie der Hinweg.
Wir besprachen noch einige Punkte und wir vereinbarten z.B., dass jeder noch einmal nachdenken sollte, was vielleicht doch noch vergessen wurde bei den Kosten. Ich habe zugesagt, auch noch einmal
zu überlegen und so detailliert wie möglich eine Liste zu erstellen. Unsere Erkenntnisse teilen wir dann in unserer gemeinsamen Whatsapp Gruppe und dann bearbeiten wir das Thema weiter.
Wir schnitten noch kurz einige andere Themen an und dann näherte sich auch schon das Ende unseres Treffens. Wir bekamen noch Kaffee, Gepäck und süße Tamales
mit Creme.
Herson Melghem der Agronom der Comsa der unser Gespräch und unsere Tafelbilder im
Computer in Word dokumentierte, ergänzte noch getroffene Vereinbarungen und wir suchten nach Worten für die Verabschiedung.
Mein Eindruck war, dass das eines der wertvollsten Treffen überhaupt in meiner Zeit in der Kaffeebranche gewesen ist. Verbunden in Dankbarkeit, Respekt und neuem Tatendrang wollten wir
gerade getrennter Wege gehen, als es wieder einmal stark zu regnen anfing.
So standen wir noch einige Minuten länger zusammen auf der Terrasse, während der Regen in großen Tropfen auf den Boden prasselte.
(Das Licht ist gerade wieder angegangen.)
PS: Nachträgliche Ergänzung: Fünf Minuten später war es wieder aus und blieb auch aus.)