Heute ist der letzte Tag bei dieser Reise für mich hier in Marcala und in meinem Kalender stehen zwei Termine.
Sieben Uhr - Treffen mit Gerardo Penalba auf seiner Finca. Gerardos Finca „Las Flores“ ist eine der größten Fincas innerhalb der Produzent*innengemeinschaft von COMSA, 12 manzanas, was ca. 8,4 ha ergibt. Gerardos Bruder Rodolfo (Geschäftsführer der COMSA) hatte Lennon vor seinem Flug nach Japan gebeten, auf mich aufzupassen und mich bei Fahrten zu unterstützen. So fuhren wir wieder zu zweit frühmorgens durch Marcala, mit dem Ziel Finca „Las Flores“. Das Zentrum von Marcala war noch nicht richtig erwacht, Lennons Mama hatte Baleadas für uns alle vorbereitet und der erste Teil des Weges verlief problemlos. Sobald wir auf den Nebenstraßen waren, änderte sich jedoch die Situation.
Wir fuhren mit Allradantrieb, aber das Geröll auf dem Weg wurde immer größer. An einer besonders heiklen Stelle schauten wir uns nur noch fragend an, doch wir versuchten es und wackelten von
einem Stein zum nächsten. Kurz vor der Finca gibt es nur eine schmale, ca. 300 Meter lange, schlammige Passage. Schlammig ist allerdings nicht ganz korrekt: Schlammrille plus ca. 30 cm Wasser ist
passender. Die Reifen hatten kaum noch Haftung, wir schlitterten mehr als wir fuhren.
Doch der alte Toyota PickUp schaffte es, unversehrt kamen wir auf der Finca an. Wir fuhren zum Geräteschuppen und parkten das Auto.
Ein kurzer Blick nach oben auf einen Hügel und wir konnten Gerardo sehen. Winkend und mit breitem Grinsen kam er auf uns zu. Seine Frau Fatima hatte eine große Thermoskanne mit Kaffee gefüllt, und Tassen und Sandkuchen mitgegeben. Wir umarmten uns herzlich. Die Ladefläche des PickUps wurde zum Tisch umfunktioniert und die Tassen mit reichlich Kaffee gefüllt. Die Baleadas und der Kuchen rundeten das Ganze ab. Die Sonne stieg schnell höher, es wurde wärmer und wir genossen unser Frühstück. Meine Quijote-Kolleg*innen und ich werden oft von anderen Röster*innen oder Kund*innen belächelt, wenn wir versuchen zu erklären, dass Ursprungsreisen Arbeit und kein Urlaub ist. Und dennoch können wir auch bei dieser Arbeit ganz besondere Momente erleben. Für mich ist es immer ein Privileg, im Auftrag von Quijote reisen zu dürfen. Im Laufe der Jahre haben sich Freundschaften entwickelt. Und dieses Frühstück zu dritt am PickUp ist garantiert für mich ein echter Glücksmoment. Was könnte es Schöneres geben, als am Morgen auf einer wunderschönen Finca zu stehen und den Kaffee zu trinken, der hier gewachsen ist.
Frisch gestärkt ging es los. Nur wenige Meter vom Schuppen entfernt, im Schutz eines großen Baumes, züchtet Gerardo hunderte von neuen kleinen Kaffee Pflänzchen. Die ersten zwei, drei Blätter sind immer unglaublich zart und leuchten in einem ganz besonderen Grün. Die meisten Kaffees brauchen drei Jahre bis zur ersten Ernte. Bis dahin ist es immer Risiko, Hingabe und Fürsorge, sie werden im wahrsten Sinne behütet, beschützt und gepflegt. Sind sie dann groß, geht es weiter mit dieser Pflege, nur dann hoffentlich mit der Gegenleistung einiger Kilo Kaffee-Kirschen.
Gerardos Finca ist in dritter Generation, ein Arbeiter ist schon über 60 Jahre hier. Dessen Sohn auch schon über 40 Jahre. Diese Männer kennen gefühlt jeden Stein, Baum und jede Pflanze hier. Die Finca ist sehr hügelig, einige Bereiche sind deshalb terrassenförmig angelegt. Das eine Feld ist ca. 100 Meter lang und 150 Meter breit. Jede Terrasse hat einen tiefen breiten Graben, damit das Wasser einen Weg findet und nicht die ganze Erde wegschwemmt. Gerardo ist fast 70 Jahre alt, trittsicher und schnell, Lennon, 48 Jahre alt, ebenso. Das kann ich mit meinen 45 Jahren nicht von mir behaupten. Um auf den Hügel zukommen, brauchte ich Hilfe von den beiden. Die Erde war aufgeweicht, das Gras rutschig und die Abstände der Terrassen sportlich. Der 80-jährige Arbeiter, der mit einer Spitzhacke die Erde auflockerte, konnte bestimmt seinen Augen nicht trauen. Aber ganz ehrlich, mir ist es mittlerweile egal, wie etwas aussieht, ob mit Hilfe oder auf dem Hintern herunterrutschend, Hauptsache rauf und runter ohne sich zu verletzten.
Oben auf dem Hügel angekommen, eröffnete sich ein unglaublicher Blick in alle Richtungen: Kaffeepflanzen, Bananen, riesige Bäume, Gräser und Obstbäume. Grün, so weit das Auge reichte. An einem kleinen Baum hingen gelbe Früchte, die aussahen wie Aprikosen, aber so groß waren wie Birnen. Gerardo erklärte mir, dass dies japanische Pflaumen wären. Einen kurzen Moment später hatte ich eine der Früchte in der Hand. Sie hatte eine dünne, leicht pelzige Haut. Ist sie reif, lässt sich die Haut leicht lösen und das gelbe Fruchtfleisch ist bereit zum Verzehr. Kurzum, ich habe eine neue Lieblingsfrucht: die japanische Pflaume. Der Geschmack ist einzigartig, eine Mischung aus Aprikose und Pflaume, aber in der Textur und der Komplexität einfach unvergleichlich. Die zweite, dritte und vierte war ebenso lecker, Gerardo grinste mich an und bat einen Arbeiter in der Nähe eine Tüte zu holen und mit Früchten zu füllen. Wir drei gingen weiter und auch hier bogen sich die Kaffeepflanzen unter dem Gewicht der Früchtemassen.
Sollte El Nino freundlich gesonnen sein, und etwaige Wetterausrutscher sich im Rahmen halten, dann wird die nächste Ernte mächtig werden. Einige der Kirschen haben sich sogar schon orange und rot verfärbt. Reife Früchte sind eigentlich toll, aber nicht jetzt. Erstens fehlt noch die Süße und zweitens ist der Regen aktuell zu stark und sehr viel. Die Haut der Früchte kann platzen, sie können herabfallen oder sich Insekten einnisten und die Tore für Bakterien öffnen. Die Schäden von dem als Kaffeebohrer bekannten Käfer (Spanisch - Broca) können von geringen Befall bis zum kompletten Ernteverlust reichen. Deshalb muss Gerardo schon jetzt zwei bis drei Personen täglich zusätzlich anheuern. Mit den abgeernteten Kirschen lässt sich noch nicht viel anfangen, aber sie dürfen eben nicht an der Pflanze bleiben. Das treibt die ohnehin schon steigenden Lohnkosten noch weiter in die Höhe. Eine Alternative gibt es jedoch nicht. Gerardos Finca ist aufgeteilt in Bereiche für einzelne Varitäten. Wir „besuchten“ die Parainemas, die Icatus und die Geishas. Alle weiteren wären auf noch steileren Hängen gewesen, aber da mein Knie schon die bisherige „Kraxelei“ nicht mochte, verzichtete ich auf mehr. Zurück am Pickup tranken wir noch einmal Kaffee und dann fuhren Lennon und ich weiter.
Auf dem Rückweg filmte ich teilweise das Herumrutschen und Schlittern des Wagens. Im Anschluss an diesen tollen Start in den Tag fuhren wir ins Beneficio Humedo.
(Fotos: Finca Las Flores Gerardo Peñalva)
Lennon musste dort noch etwas erledigen und ich wollte die Gelegenheit nutzen, um mit einigen Leuten zu reden. Auf dem Gelände waren viele Fahrzeuge. Eltern und Kinder von mehreren Schulen nutzten eine große Halle der COMSA um Festtagswagen für die Feier am Wochenende zu schmücken. Nelsons Sohn kam rennend auf den PickUp zu, wir schwatzen kurz, dann noch eine feste Umarmung und dann rannte er schnell wieder zurück zu den anderen. Als ich mich umdrehte, konnte ich meinen Augen nicht glauben, grinsend und fröhlich stand auf einmal das "Dynamische Duo" von COMSA vor mir: Es gibt so viele fantastische Persönlichkeiten und Abdiel und Achilles gehören mit Sicherheit dazu. Im Mai hatten wir uns nicht gesehen, daher war unsere letzte Begnung 2019 gewesen. Deshalb dauerten die Umarmungen auch etwas länger. 2019 haben sie direkt mein Natural Projekt unterstützt. Damals waren sie dafür zu ständig, dass einige der Lots hier im Beneficio Humedo sorgfältig getrocknet werden. Die beiden haben seit zig Jahren ihren Spitznamen „Dynamisches Duo“, weil es die zwei eigentlich immer nur zusammen gibt und sie fast immer lächeln. Ihre heutige Aufgabe war es, Teile einer Maschine mit einer roten Rostschutzfarbe zu bemalen. Gewissenhaft und grinsend machten sie sich nach einigen Minuten Small-Talk wieder an die Arbeit.
Lennon und ich machten uns wieder auf den Rückweg nach Marcala. Am Nachmittag stand der Besuch der Finca „Cual Bicileta“ von Oscar Omar Alonzo auf dem Programm. Da die Wetter-App und die
Erfahrung der letzten Tage nichts Gutes verhieß, machten wir uns in Absprache mit Oscars Sohn Oscar Armando früher auf den Weg.
Ein kleiner Zwischenstopp bei einer Apotheke, eine stützende Bandage für mein Knie und weiter ging es.
Auch wenn es schon obligatorisch ist, der Weg war schwierig und wurde im Verlauf noch schwieriger. Umgestürzte Bäume, Masten mit heruntergerissenen Stromleitungen und, als neues Extra,
herabgestürzte Felsen. Doch wir hatten Glück, wie an all den Tagen zuvor. Wir kamen wohlbehalten auf der Finca an.
Im Vergleich zu den Fincas der anderen ist der Abstand der Pflanzen hier sehr gering, daher ist die Masse an Pflanzen unfassbar. Oscar hat vor Jahren begonnen, Fasern von Kokosnüssen als Wasserspeicher für den Boden zu nutzen. In Kombination mit sorgfältiger Düngung und Rückschnitt schreien die Pflanze geradezu: „Wir ballern!“ Kaum ein Blatt das Schäden aufweist, Uniformität in höchster Güte und Kirschen, die schon im September süß schmecken. Mehr geht kaum. Auch hier sind die Kaffees pro Varität auf verschiedene Bereiche der Finca aufgeteilt. Da die Varitäten unterschiedlich in Menge und Zuckergehalt sind, erleichtert dies die Ernte. So kann jede Sorte mit möglichst hoher Reifung individuell geerntet und separat verarbeitet werden. Für unser Natural Project bereitet Oscar einen Hybrid (Arabica/ Robusta) auf, 100 % Icatu. Da er eine sehr große Kapazität hat, wird die Menge zumeist in einer Woche geerntet und dann auf großen Plastikplanen auf einer ebenen Fläche getrocknet. Icatu kann im Laufe der Jahre etwas holzig und weniger komplex in der Tasse werden, doch bis jetzt sind Oscars Qualitäten immer so gut gewesen, dass wir mindestens einen Kaffee (Lot / Charge) als Microlot (Single Kaffee) vermarktet haben.
Sein Sohn Oscar Armando ähnelt ihm in vielerlei Hinsicht, er sprudelt schier über vor Enthusiasmus, kennt die Finca wie seine Westentasche und ist begeistert von unserem gemeinsamen Projekt. Seine Großmutter bereitete uns noch Kaffee und einen köstlichen Saft zu und dann machten wir uns auf den Rückweg.
Zurück fuhr ich mit Oscar Armando, er wollte uns noch zum Essen einladen. Da er mir die Wahl überließ, fiel sie wieder auf das Ronys. Ich könnte dort auch zweimal am Tag essen. Auf dem Weg unterhielten wir uns über die Situation der Straßen und er erzählte mir noch, dass er sich noch gut an meinen ersten Besuch bei seiner Familie zu Hause erinnerte. Und da wurde mir auf einmal mehr bewusst, wie erwachsen er bereits war, und auch, dass unsere Zusammenarbeit von Quijote und der COMSA etwas ganz besonderes ist. Gemeinsam haben wir ein gutes Produkt entwickelt, ein Produkt, das so gut ist, dass die Rechnungen für ein neues Haus für die Familie bezahlt werden konnte. Es gibt hier wie in so vielen anderen Ländern auch einen demografischen Wandel. Die Zukunft des Kaffees und der Generationswechsel auf den Fincas ist oft ungewiss. Aber hier neben mir saß ein 24-jähriger junger Mann, der sich eine Zukunft im Kaffee-Anbau wünschte. Er möchte sich mehr einbringen, möchte mehr lernen, Qualitäten verbessern und Mengen Jahr für Jahr reproduzieren können. Sein Vater hat eine eigene Verarbeitungsanlage gebaut, er kooperiert mit seinen Nachbarn und engagiert sich in der COMSA. Und Oscar Armando sagte mir, er träume von einem Häuschen bei der neuen Verarbeitungsanlage für sich, damit er noch mehr an diesem Schritt des Kaffees teilhaben kann. Was könnten wir uns mehr wünschen!
Das gemeinsame Mittagessen war köstlich, die Gesellschaft toll. Der Regen setzte früher ein, als angekündigt, aber wir saßen im Trockenen und der Tag war erfüllend. Ich gönnte mir zum Abschluss noch ein lokales Bier „Salva Vida“ („Lebensretter“). Am frühen Nachmittag kehrte ich dann zurück ins Hotel. Ich arbeitete noch etwas am Computer. Der Himmel verdunkelte sich, der Regen prasselte wieder nieder, dann fiel wieder der Strom aus und um 19:30 Uhr ging ich schlafen. Am nächsten Morgen würde mein Wecker um 4:45 Uhr klingeln, sodass ich dann hoffentlich mit Licht (zurückgekehrtem Strom) meine Reisetasche packen und meine Rückreise antreten konnte.
PS: Die Rückreise verlief weitestgehend reibungslos, einen heiklen Moment gab es jedoch: Auf dem Weg zum Flughafen lagen unzählige Steine auf der Fahrbahn, einige so groß wie Autos. Es gibt keine Absicherung an Felswänden und der Starkregen brachte die Steine ins Rollen. Im Gegensatz zu einigen anderen war unsere Strecke letztendlich aber zum Glück machbar.