Wenn man an einem regulären Wochentag morgens um kurz nach vier Uhr das Haus verlassen muss, ist das normalerweise nicht undedingt ein Grund in Jubelstürme auszubrechen.
Erst recht nicht bei Minusgraden, Schneefall und Eis auf dem Strassen. Anders sieht das mit der Motivation allerdings aus, wenn draußen vor der Tür ein Taxi zum Flughafen Fuhlsbüttel wartet und das Flugziel Indien heißt.
Zunächst sollte es allerdings noch schimmer werden und noch weiter in den kalten Norden gehen. Meine Flugroute führte mich von Hamburg nach (Achtung!) Stockholm Arlanda und von dort über Dubai nach Kozhikode (Calicut) im Norden von Kerala.
Ja, richtig gelesen, nach Indien über Schweden. Klingt total beknackt, ist auch total beknackt.
Aber da mein Zielflughafen in Indien nicht direkt aus Deutschland angeflogen wird, sind auf dem Weg dorthin in der Regel zwei längere Umsteigeaufenthalte notwendig.
Bei allem geographischen Irrsinn machte diese Variante im Vergleich zu allen anderen (z.B. Paris-Istanbul oder Prag-Mumbai etc), sowohl preislich als auch hinsichtlich der Aufenthaltslänge und der Flugzeiten tatsächlich am meisten Sinn.
Zugegeben, die Zeit vor Ort war etwas knapp bemessen, aber für einen kurzen Besuch bei Drop Coffee in Stockholm bzw. eine Rundfahrt in Dubai sollte es trotzdem locker reichen.
Der erste Teil dieses Vorgabens scheiterte bereits grandios bevor ich überhaupt einen Meter in der Luft war. Aufgrund des Wintereinbruchs mußte der Eurowings Flieger in Fuhlsbüttel enteist werden.
Das dauert eigentlich nicht lange.
Da aber noch mehrere Flieger vor uns an der Reihe waren verzögerte sich der Abflug letztendlich um fast zwei Stunden (die alle Reisenden im Flieger verbringen mussten, auch das ein Traum bei gefühlt nicht vorhandener Beinfreiheit und einer plötzlichen Verdoppelung der Aufenthaltsdauer in der Kiste) und das Zeitpolster von knapp sieben Stunden war bereits bedenklich geschmolzen.
Erschwerend kam nun noch hinzu, dass ich mein Gepaeck nicht bis Dubai durchchecken, sondern es erst abholen und dann bei Norwegian Air wieder abgeben musste. Ihr merkt schon, hier war ein echter Buchungsfuchs am Werk.
Aber kein Problem, Ceck-In-Automat und Baggage Drop Off im technisch hoch gerüsteten Schweden, das geht ja schnell.
Vorausgesetzt der Automat erkennt die übermittelte Buchungsnummer der Airline.
Tat er aber nicht.
Sicherlich nur ein technischer Fehler. Aber auch der nächste und der übernächste Automat straften meine Nummer mit einer nordisch kühlen Ablehnung, welche dem Wetter draußen alle Ehre machte. Also ab in die (natürlich lange) Schlange am Schalter statt in die Metro Richtung Stockholm City, denn für den Trip in die Stadt fehlte nun definiv die Zeit.
Bisschen blöd, wenn man diese Reisevariante u.a. mit genau diesem Ausfug relativiert. Aber nun gut, ab jetzt konnte es nur noch aufwärts gehen.
Die heimliche Freude über diesen unverschämt komischen Wortwitz verging mir allerdings am Gate von Norwegian Air sehr schnell. Denn es ging alles, nur nicht aufwärts. Ihr ahnt es schon.
Richtig, Frost und Enteisung und eine Verspätung von flockigen 180 Minuten. Fand ich so semi geil, denn somit ware der Stadtausflug natürlich doch locker möglich gewesen.
Aber gut, dann eben alles auf Dubai!
Nicht einmal semi geil waren dann Sitze im Flieger. Sitz 31 A klang zunächst unverdächtig, entpuppte sich allerdings als der schlechteste Platz im ganzen Flugzeug, da es die hinterste Reihe vor der Wand an der Bordtoilette war und man die Lehnen nicht zurückklappen konnte. Jeder Orthopäde hätte wahrscheinlich seine helle Freude an dieser gesunden, aufrechten Sitzposition gehabt.
Erschwerend kam allerdings hinzu, dass die Gepäckfächer über dieser Reihe mit Crewmaterial vollgestopft waren. Also musste das Handgepaeck halb unter den Vordersitz gequetscht werden, was natuerlich bei Maximalausschöpfung der erlaubten 8 Kilo auch nicht wirklich passte und den ohnehin schon knappen Beinfreiraum zu einem Keinfreiraum machte.
Der Versuch, die Extremitaeten irgendwie im verbliebenen Bermudamikrodreieck zwischen Gepäck, Nachbarn und Vordersitz unterzubringen führte zu einer leicht seitlich verdrehten Sitzhaltung. Sah ein bisschen aus wie die Queen im Damensattel bei der alljaehrlichen Abnahme ihrer Geburtstagsparade.
Nur mit dem Unterschied, dass diese Parade keine sechseinhalb Stunden dauert wie dieser Flug. Ich hatte mir vor der Abfahrt zum Glück auf meinem Billig-MP3-Player (für die jüngeren Leser: Das ist quasi ein Smartphone nur ohne Display, Kamera und Telefonfunktion) noch eine fette Tracklist mit Northern Soul Songs zusammengestellt.
Die Musik verfehlte ihre ablenkende Wirkung nicht und beim Gedanken an freizügige Shuffles und Backdrops auf dem Wooden Dancefloor des Hafenklangs fiel ich schnell in eine barmherzige Ohnmacht. Als ich nach viel zu kurzer Zeit wieder zu mir kam hatte ich gefühlt keine Beine mehr, dafür aber mit Ronnie Milsap und “Ain`t no soul left in these old shoes” immerhin den passenden Song auf dem Ohr.
Pingo hatte mir kurz vor meiner Abreise noch den heißen Tipp mit auf den Weg gegeben, die Aeropress und Handmühle einzupacken, da die Leute und vor allem die Stewardessen im Flieger da immer total drauf abfahren. Ich hatte zumindest kurz überlegt, den Kram aus dem Rucksack im Bermudamikrodreieck rauszuwühlen.
Aber der Gedanke, in dieser verkrampft-beengten Sitzposition kochend heißes Wasser auf dem wackeligen Klapptisch zu positionieren und während dessen Kaffeebohnen zu mahlen, erschien mir ebenso riskant wie das sich daran anschliessende Einfüllen in die Aeropress, Umrühren und Hinunterdrücken in einen wabbeligen Plastikbecher.
Und das alles auch noch ohne Beine… Ok, scheiss auf die Stewardessen, Bier her bitte.
Und siehe da: es gab tatsächlich ein gut schmeckendes schottisches IPA namens PUNK. Geht doch, Norwegian! Sechseinhalb Stunden und einige PUNKs später war es dann irgendwie geschafft. Mit knapp zweieinhalb Stunden Verspätung zwar, aber 02:00 Uhr ist ja keine Zeit.
Zumindest nicht in Dubai. Unglaublich was hier um diese Uhrzeit noch los war. Menschenmassen und dementsprechend lange Schlangen vor allem bei der Einwanderungskontrolle.
Eine Dreiviertelstunde und kein PUNK mehr später hatte ich dann letztlich den Stempel der Vereingten Arabischen Emirate im Reisepass.
Jetzt nur noch schnell das Gepäck als vorletztes Packstück vom Laufband holen, Geld wechseln, was zu trinken kaufen und ab ins Taxi zum Hotel. Ankunft um kurz vor vier und die Frage des Rezeptionisten: “You came here at this time for one night only? Are you serious?”
Aufgrund meines nicht mehr ganz scheckheftgepflegten Allgemeinzustandes buchte er dann noch kostenfrei auf Late-Ceck –Out um “because you will need it”.
Ein weiser Mann!
Denn trotz aller Mühen war aufgrund der beiden letzten sehr kurzen Nächte an ein rechtzeitiges Aufstehen um spätestens 08:00 Uhr für einen Stadtausflug nicht zu denken. Der Geist war sogar noch willig, aber das Fleisch kam da nicht mehr so ganz hinterher.
Teil zwei des eingangs erwähnten Anreiseplans war somit ebenso krachend gescheitert. Ebenso gescheitert war damit leider auch das geplante Treffen mit meinem alten Bekannten "Klösschen", der im Zuge des HSV-Wintertrainingslagers gerade auch in Dubai war. Doof, aber ging nicht!
Stattdessen lieber nochmal umdrehen, in Ruhe frühstücken, online einchecken und dann ganz gemütlich zum Flughafen fahren und das Gepäck aufgeben. Super Plan.
Bis zum Online Check-In für meinen Flug nach Kozhikode. Der funktionierte bei Air India nämlich leider nicht. Stattdessen forderte die Airline bei internationalen Flügen 150 Minuten vor Gate Öffnung am Schalter zu sein, wenn man noch Gepäck einzuchecken und keine Bordkarte hat.
Also ab ins Taxi und zurück zum Flughafen. Und das war nicht zu früh. Am Schalter von Air India hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Und zwar mit Leuten mit extrem viel Gepäck in Form von zum Teil riesigen Kartons.
Hauptsächlich waren dies indische Gastarbeiter, die in großer Zahl in den VAE arbeiten und dann zum Familienbesuch oder Urlaub nach Hause fiegen.
Kein Wunder, dass Dubai somit auch zur Drehscheibe für Weiterflüge zu kleineren indischen Städten geworden ist.
Die Ausreisekontrolle und Sicherheitscheck verliefen wesentlich zügiger, als die Einreisekontrolle, so dass ich noch etwas Zeit hatte nach einer Stromquelle für mein Handy zu suchen.
Leider ist der Flughafen in Dubai hinsichtlich öffenticher Steckdosen noch bei weitem nicht so gut ausgestattet wie z.B. der Airport in Stockholm. Letztendlich wurde ich schließlich bei einer internationalen Kaffeekette fündig, die für ihre Gaeste in einer abgetrennten Außenfläche an jedem Tisch eine Doppelsteckdose und USB-Anschluss zur Verfügung stellten. Kluge Geschäftsidee, denn sonst hätte ich mich da bestimmt nicht hingesetzt.
Für die absurde Stromgier meines Smartphones musste ich, dann aber auch mit einem leidenschaftlich und schonend Langzeit gerösteten 100% Hochland Arabica Kaffee aus besten Anbaugebieten im wahrsten Sinne des Wortes bitter büssen. Auf dem Weg zum Gate noch einmal ein beiläufiger Blick auf die Departuretafel weil es plötzlich rot blinkt: “AI 0938 to Kozhikode: Delayed by 90 minutes.”
Naja, irgendwann nimmt man sowas dann einfach mit Humor. Immerhin wurde das Ganze diesmal vor dem Boarding angezeigt, so dass die verlängerte Wartezeit bequem sitzend in der Halle vor dem Gate und nicht in gefühlter Embryonalhaltung auf dem Flugzeugsitz verbracht werden mußte.
Als kleine Entschädigung für den verpassten Ausflug nach Dubai gab es nach dem Start einen schönen Rundflug entlang der Skyline und über die Stadt mit einer tollen Sicht u.a auf das Burj Khalifa.
Aus dieser Persepektive wurde der ganze Wahnsinn dieser Stadt noch einmal besonders krass sichtbar, denn das Siedlungsband zwischen Meer und Wüste ist wirklich nicht besonders breit.
Air India konnte übrigens durchaus punkten.
Der Sitzabstand zur Vorderreihe war thromboseungefährdend bemessen und auch das Essen (ich entschied mich für ein Oriental Vegetarian Curry) wußte für Flugzeugverhältnise durchaus zu gefallen.
Nach dreieinhalb Stunden Flug, dem Ausfüllen eines besonderen Einreiseformulars für Ausländer, Gepäckabholung und Geldtausch (das Thema Bargeld ist gerade ein heikles Thema in Indien, darauf gehe ich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ein) kam dann der kalte Sprung ins hektische indische Alltagsleben.
In Kozhikode landet man nach der Zollkontrolle nämlich nicht in einer Ankunftshalle. Hier geht eine Tür auf und man steht quasi direkt unter freiem, dunklen Himmel und inmitten einer pulsierenden, lauten, völlig unübersichtlichen Menschenmenge an der Straße.
Ein wahnsinniges Gewusel und als einziger Mensch mit westlicher Herkunft und zwei Rucksäcken kam ich mir auf einmal ziemlich fremd, einsam und etwas orientierungslos vor.
Dabei wurde ich weder begafft, noch angesprochen oder komisch beäugt. Die Leute guckten zwar, registrierten auch dass ich offensichtlich nicht von hier kam, aber es gab weder abschätzige Reaktionen, noch Getuschel, noch Versuche mir irgendetwas aufzudrängen.
Ich kam mir zwar nicht zugehörig vor, aber auch nicht unwillkommen.
Diese Erfahrung in einer fremden Umgebung plötzlich zu einer absoluten Minderheit zu gehören und dieses auch nicht verstecken zu können, das Gefühl, einer solchen Situation ausgeliefert zu sein - das würde sehr vielen Leuten in Deutschland momentan sicher mal sehr, sehr gut tun.
Nach einem kurzen Augenblick der Akklimatisierung war dann alles ganz easy: Nach Getränkekauf im Kiosk (Wasser nur aus Flaschen) und Taxisuche ging es in der Nähe des Flughafens ins bereits gebuchte Hotel.
Dort wurde ich am Sonntag morgen nach dem Frühstück wie verabredet von einem Fahrer von Organic Wayanad abgeholt.